Sitzenbleiben ist ungesund
30. Januar 2016

Die Kunst der Pause: Unter diesem Titel wollen die Kaufmännische Schule Geislingen und das Respofit Schüler dazu bringen, nicht nur den ganzen Tag zu sitzen. Bewegung zwischendurch verlängert das Leben.

„Aufstehen, Partner schnappen und in den freien Raum stellen“, verlangt der Mann vorne an der Tafel von den Schülern. Die Anweisungen kommen nicht von einem Lehrer. Der Kerl, der sich frontal an die Klassen wendet, ist Harry Stock, ein Sportwissenschaftler in Diensten des Geislinger Respofit. „Ihr steht auf einem Bein, Abstand eineinhalb Meter, faltet die Hände, die Spitzen gegen die Spitzen eures Gegenüber – und jetzt versucht euch abzuklatschen“. Die rund 80 Schüler im Raum K232 gehen voll darauf ein und geben sich größte Mühe, ihren Partner an der Hand zu treffen.

Sie haben sich gerade eine knappe halbe Stunde lang angehört, wie Sportwissenschaftler Stock ihnen die Gefahren des Sitzenbleibens erklärt hat. Er konfrontierte sie mit einer Studie: Die Sterberate steige ab einer täglichen Sitzdauer von sechs Stunden ohne Unterbrechung. Danach helfe selbst eine Stunde Sport nicht mehr. „Man kann durch Joggen am Abend nichts rückgängig machen“, warnt Stock. Um den Schülern die Gefahren noch plastischer zu machen, greift er zu Schlagwörtern: „Sitzen ist das neue Rauchen“.

Stock und Respofit-Chef Gerhard Öchsle wollen die Jugendlichen dazu bewegen, sich zu bewegen. Da die Masse der Kinder nie eine Sunde täglich Sport treiben wird, muss es eben im Kleinen gehen. „Zwei Minuten täglich reichen“, sagt Stock.

Bei Schulleiter Roland Rimbach rennt er damit offene Türen ein. Die Kaufmännische Schule hat schon eine Laufgruppe und einen Selbstverteidigungskurs. In denen machen aber nur die mit, die auch außerhalb der Schule Sport treiben. Rimbach will „alle die kriegen, die sich überhaupt nicht sportlich betätigen“. In einer Ganztagesschule kommen die Kinder morgens und gehen abends, dazwischen „sind sie den ganzen Tag gesessen“.

Stock leitet die Schüler weiter an. „Hände hoch, leichte Sprünge aus dem Fußgelenk“, fordert er. Die Kinder machen wieder mit. „Nach der Hopserei habt ihr weniger Stress als vorher“, verkündet der Referent, das sei wissenschaftlich erwiesen. Solch kleine Übungen, lockt er weiter, „könnt ihr zu jeder Zeit machen“. Diese kleinen Bewegungen sind auch ein ständiger Kampf gegen die Peinlichkeit.

Es wirke manchmal schon lächerlich und peinlich, räumt Stock das Hauptproblem der Übungen in Schülerkreisen ein. Den Lernenden an der Kaufmännischen in Geislingen hat’s offenbar Spaß gemacht. Der steigende Geräuschpegel während der Übungen verrät es. Gelächter, Anfeuerungen – Hüpfen oder Abklatschen sind selbst für notorische Sportverweigerer meist angenehmer als eine Mathe-Klausur.

Respofit-Chef Öchsle glaubt, mit der Einführung viele Schüler von der Sinnhaftigkeit dieses Treibens überzeugt zu haben. Zwei willkürlich herausgepickte Schüler bestätigen seine Vermutung. Martin (16) gefällt es „ganz gut“, und er ist „bereit dazu“. Die ein Jahr ältere Jessica findet es gar „richtig cool“, und sie würde „regelmäßig mitmachen“.

In der Einführung am vergangenen Dienstag ging es darum, die Schüler anzulocken. Nach den Faschingsferien soll das Projekt offiziell starten. Dank eines Sponsors gibt’s dann für jede Klasse eine Mini-Tischtennisplatte. Die Schüler sollen sich lieber in der Mittagspause daran austoben „statt zum Döner zu gehen“, sagt Rimbach. Es kommt dabei nicht nur auf die Schüler an, die Lehrer müssen auf das Sportprogramm eingehen. Für sie „muss es zum Ritual werden“, fordert der Schulleiter. Er kann den Kollegen nicht in den Unterricht hineinregieren, die müssen schon von sich aus zwei Minuten pro Schulstunde abknapsen.

Manche Schüler machen jetzt schon Druck. Drei Klassen wollen nicht erst bis zum offiziellen Aktionsbeginn am 17. Februar warten. Sie haben ihre Klassenlehrer gedrängt, sofort mit Bewegung im Unterricht zu beginnen. Die willigten gerne ein. Auch Lehrer wollen nicht sitzenbleiben.

THOMAS FRIEDRICH | 30.01.2016    Geislinger Zeitung

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